Schneeglöckchen
Grazile Überlebenskünstler in der kalten Jahreszeit
Die filigrane Erscheinung dieser Frühblüher lässt nicht ahnen, welche raffinierten Tricks sie anwenden, um der spätwinterlichen Kälte zu trotzen.
Wenn Frost und Schnee noch auf der Tagesordnung stehen und der Frühling noch einige Wochen auf sich warten lässt, ist bei vielen die Sehnsucht nach bunt blühenden Pflanzen im Garten schon groß. Mit dem Erscheinen des Kleinen Schneeglöckchens (Galanthus nivalis) erwacht allmählich die Natur aus dem Winterschlaf und mit ihren zartweißen Blüten verkünden sie den nahenden Frühling.
Das Schneeglöckchen ist ein zu den Amaryllisgewächsen (Amaryllidaceae) gehörender Zwiebelgeophyt. Es nutzt die sehr frühe Blütezeit, um den Konkurrenzkampf mit anderen Pflanzen um Licht, Nährstoffe und Wasser gering zu halten. Seine mit Vorräten vollgepackten Zwiebeln dienen ihm während des Austriebs als Starthilfe, um einen Vorsprung gegenüber anderen Pflanzen zu haben. Heimisch sind die „Schneeguckerchen“, wie sie im Volksmund auch genannt werden, in Auwäldern und Edellaubwäldern. Hier wachsen sie in der Krautschicht unter Bäumen und Sträuchern, wo nur im Frühjahr vor dem Blattaustrieb der Sträucher und Bäume ausreichend Licht zum Boden durchdringt. So können sie ihre drei länglichen blaugrünen Blätter und eine flache Blütenknospe, die durch ein einhüllendes Hochblatt geschützt ist, entwickeln. Nimmt die Sonne im Februar an Kraft zu, erwärmt sich der Boden und die Schneeglöckchen sprießen in die Höhe. Dabei durchstoßen sie mit ihrer harten Blattspitze den Boden, manchmal sogar die schützende Schneedecke. So wirkt es, als würden sie den Schnee zum Schmelzen bringen. Die Energie hierfür wird jedoch nicht vom Stoffwechsel der Pflanzen geliefert, sondern von der Wärme des Sonnenlichtes, das von den Blättern und vom freiwerdenden Boden absorbiert wird. Der Austrieb wiederum ist sehr energieaufwändig und die Speicherzwiebel verliert an Masse und wird hohl.
Kommt doch noch einmal eine eisige Front auf die „Schneeglöckerl“ zu, sind sie mit einer sehr cleveren Überlebensstrategie gewappnet, nämlich mit der Produktion eines Frostschutzmittels. Damit das Wasser in ihren Zellen nicht beginnt zu gefrieren, lagern sie verschiedene Zucker wie Glycerin oder Sorbit ein, die das Zellwasser fest an sich binden. So wird der Gefrierpunkt herabgesetzt und die sonst aufrechtstehenden Schneeglöckchen liegen bei Temperaturen von -5 °C schon mal schlapp am Boden, da sie den Turgordruck in den Zellen nicht mehr aufrechterhalten können. Dauert die frostige Periode nicht zu lange, können sie sich wieder ohne Mühe aufrichten.
Kurz vor der Blütezeit beginnen die Blütenknospen zu nicken und die frostunempfindliche Blüte öffnet bei schönem Wetter ihre drei äußeren weiß gefärbten Blütenblätter. So gibt sie den Blick auf drei innere kleinere Blütenblätter frei. Diese besitzen außen eine V-förmige und innen gestreifte grüne Markierungen. Diese sogenannten Saftmale sind Wegweiser zum Nektar und Pollen für bestäubende Insekten. Gleichzeitig sind sie ein wichtiges Bestimmungsmerkmal für Botaniker, um die ca. 20 weltweit vorkommenden Schneeglöckchen-Arten zu unterscheiden. Die Saftmale betreiben nicht nur Photosynthese um ausreichend Energie für die Samenentwicklung zu produzieren, sondern entwickeln auch einen betörenden Duft, der vor allem von den inneren grünen Streifen abgegeben wird. Dadurch werden früh fliegende Junghummelköniginnen und andere Wildbienen, aber auch Honigbienen angezogen. Manchmal wird das „Schneefeigerl“ auch von überwinternden Tagfaltern wie dem Tagpfauenauge oder dem Zitronenfalter besucht. Das Schneeglöckchen ist eine unverzichtbare Pollenquelle für viele Bestäuber in den kalten Spätwintermonaten. Um für Insekten gut sichtbar zu sein, reflektieren die weißen Blütenblätter UV-Licht, wodurch sie sich vom Hintergrund hervorheben und so attraktiv für die Insekten werden.
Blütenökologisch betrachtet zählen Schneeglöckchen zur Gruppe der Glockenblumen mit einem Streukegel, das heißt ihre sechs gelben Staubblätter stehen kegelförmig zusammen. Damit der Pollen nicht vergeudet wird, wenn nur der Wind das Schneeglöckchen bewegt, entlassen sie ihren trockenen Pollen erst, wenn Bestäuber mit ihren vibrierenden Flügeln eine gewisse Frequenz erzeugen (Vibrationsbestäubung). Dann rieselt der Pollen auf den fliegenden Gast herab, der ihn bei weiteren Blütenbesuchen auf die Narbe anderer Blüten überträgt.
Da zu ihrer sehr frühen Blütezeit nur wenige Insekten unterwegs sind, bleibt die Bestäubung manchmal aus. Doch auch für diese Situation sind sie gerüstet. Denn da kommt der Notfallplan, die Selbstbestäubung der Blüte, zum Einsatz. Danach senkt sich der Blütenstängel mit der ausgereiften Kapsel zu Boden und gibt die Samen mit einem nahrhaften Ölkörper als Fortsatz frei. Den Ameisen schmeckt dieses Anhängsel besonders gut, weswegen sie es in ihren Bau schleppen. Wenn sie der Versuchung nicht widerstehen können, vernaschen sie es am Heimweg und der Samen bleibt unbeachtet neben der Ameisenstraße liegen. Die Evolution hat sich mit der Ameisenverbreitung eine sehr schlaue Erfindung einfallen lassen.
Nach der Samenreife betreiben die Blätter weiterhin Photosynthese und lagern in der Zwiebel Nährstoffe für das nächste Jahr ein. Um nicht aufgefressen zu werden, werden verschiedene für Insekten toxische Substanzen, wie Alkaloide und Lektine in allen Pflanzenteilen angereichert. Sind ausreichend Nährstoffe für das nächste Jahr eingelagert, ziehen die Schneeglöckchen ihre grundständigen Blätter im Frühsommer ein und überdauern die für sie ungünstigen Bedingungen bis zum nächsten Jahr.
Frühjahrsgeophyten wie das Schneeglöckchen sind schon seit einigen Jahrhunderten beliebte Zierpflanzen. Bereits im Jahr 1588 wurde die Pflanze im Garten von Joachim Camerarius in Nürnberg kultiviert. Pflanzt man Schneeglöckchen in kleinen Gruppen im Garten, können sich unter günstigen Bedingungen dichte Bestände ausbilden. Die beste Bezugsquelle für das „Glöckerl“ sind andere Gartenbesitzer. Große Horste können einfach ausgegraben und geteilt werden. Die Zwiebeln setzt man in kleinen Grüppchen etwa fünf bis acht Zentimeter tief ein. Sie bevorzugen halbschattige Plätze unter Sträuchern und Bäumen, die im Frühjahr sehr licht sind und nährstoffreiche, frische bis feuchte Böden haben. Wichtig ist, dass man die Blätter nicht abschneidet oder mäht!
Besonders schön wirken die Schneeglöckchen in Kombination mit anderen Frühlingsblühern wie Gelbstern, Blaustern, Winterlingen oder Krokussen. Außerdem sind sie gute Partner für spätaustreibende Stauden und schmücken auch winterlich gekleidete Staudenbeete.
Text von Katharina Sandler MSc, Bioforschung Austria
Der Artikel ist im Rahmen des Interreg Projektes SYM:BIO ATCZ234, welches durch den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung kofinanziert ist, entstanden.
Weitere Informationen zum Projekt: www.bioforschung.at/projects/symbio-at-cz/